Im Interview sprechen Mitglieder vom Verein "Neue Kulturwege" darüber, warum Kultur auch für das soziale Leben von ärmeren Menschen wichtig ist.
Kultür Potsdam öffnet Kulturveranstaltungen für Potsdamer mit wenig Geld. Die Initiative entstand als studentisches Projekt der Fachhochschule Potsdam. Unter dem Dach des Vereins Neue Kulturwege wurde die Arbeit professionalisiert. In den vergangenen Jahren konnten dadurch immer mehr Menschen mit geringem Einkommen oder Hilfeempfänger kostenfrei in Theater, Konzertsäle und Museen, aber inzwischen auch zu Sportveranstaltungen, Popkonzerten oder Kinderprogrammen.
Die Veranstalter stellen der Initiative dazu Karten zur Verfügung. Im Jahr 2023 vermittelte Kultür Potsdam die bisherige Höchstzahl von 4.100 Eintrittskarten. Was das bedeutet, darüber sprach Blickpunkt mit dem Vorstandsmitglied des Vereins und Kultür-Mitbegründerin, Claudia Walter, und der Projektleiterin, Kristin Geschwäntner.
Woran liegt es, dass Ihr Angebot immer mehr Menschen nutzen?
Kristin Geschwäntner: In schwierigen Zeiten ist Kunst und Kultur für viele Menschen ein Lichtblick, eine Abwechslung vom Alltag. Die Teilnahme an einer Veranstaltung versetzt die Gäste in Vorfreude und beschert ein schönes Erlebnis. So können sie teilhaben an Kultur, sie können Teil der Stadtgesellschaft sein. Aber viele Gäste freuen sich auch über die Gespräche, die wir mit ihnen führen. Denn wir rufen unsere Gäste an, sobald wir passende Angebote für sie haben. Dabei bekommen wir das steigende soziale Gefälle mit. Auch sehen wir ihre Situation durch die Belege, die sie uns als Nachweis einreichen, etwa die Höhe der Renten.
Claudia Walter: Seit letztem Jahr nehmen wir die Inflation verstärkt wahr. Sie macht den Menschen mit niedrigem Einkommen sehr zu schaffen. Früher haben viele es irgendwie noch geschafft, aber mittlerweile hören wir immer öfter, dass es nicht mehr geht, Geld für Kulturveranstaltungen an die Seite zu legen.
Ist der eigentliche Bedarf also noch größer?
Walter: In unserer Datenbank sind über 12.600 interessierte Gäste registriert. Entweder direkt oder über soziale Einrichtungen, mit denen wir zusammenarbeiten.
Geschwäntner: Ja, es sind leider noch wesentlich mehr Menschen in Potsdam bedürftig. Im Jahr 2022 galten 15 Prozent der Potsdamer als armutsgefährdet, das sind also etwa 27.000 Einwohner. Wir versuchen das Angebot leicht zugänglich zu gestalten, um eine Anmeldung so einfach wie möglich zu machen.
Von diesen Menschen hat aber vielleicht nicht jeder das Bedürfnis nach Kultur?
Geschwäntner: Ja, das stimmt sicherlich. Aber es geht vor allem um Teilhabe. Auch Sportvereine stellen Karten zur Verfügung. So können Gäste ebenso zu Sportveranstaltungen wie Wasserball, Fußball und Handball gehen. Oder an Stadtführungen, Wanderungen und Nähkursen teilnehmen - also Veranstaltungen ohne viele Voraussetzungen. Wichtig ist, dass Gäste immer eine Begleitperson mitnehmen können – somit Dinge gemeinsam tun, die man sonst auch nicht allein macht.
Gerade Orchester klagen über ausbleibende Zuhörer. Profitieren die Veranstalter ebenfalls von Kultür?
Geschwäntner: Natürlich. Wenn Eltern ihren Kindern zeigen, dass Besuche im Theater, Kino, Museum und künstlerische Ferienangebote zum Leben dazugehören, werden diese Kinder immer einen stärken Bezug zu Kunst und Kultur in ihrem Alltag haben. Später werden diese Kinder sehr wahrscheinlich auch Besucher kultureller Einrichtungen werden.
Walter: Die Veranstalter sehen, dass wir Mittler sind. Viele der angemeldeten Gäste sind Rentner. Die nehmen gern ihre Kinder oder Enkel mit, die so mehr in Kontakt mit Kunst und Kultur kommen.
Also bemerken Sie eher einen Bedarf bei Älteren?
Geschwäntner: Es sind verstärkt Menschen ab 50 Jahren aufwärts angemeldet. Aber in den letzten Jahren melden sich auch vermehrt junge Menschen, Familien und Studenten an.
Studenten gehören auch zu den Bedürftigen?
Geschwäntner: Ja. Alle Potsdamer können das Angebot wahrnehmen, die Transferleistungen erhalten oder ein geringes Einkommen bis zu 1.300 Euro netto als Einzelperson nachweisen können. Da genügt der Lohn- oder Rentenbescheid. Der Bafög-Bescheid ist genauso gültig wie der Anspruch auf Wohngeld oder Bürgergeld. Diese Ansprüche wurden ja bereits durch die Ämter geprüft.
Kürzlich hatten Sie die Tafel Potsdam besucht, um Ihr Angebot vorzustellen. Was haben Sie dort erlebt?
Geschwäntner: Wir arbeiten schon sehr lange mit der Tafel zusammen. Der Besuch war Augen öffnend. Es ist immer noch Aufnahmestopp bei der Tafel. Der Bedarf ist so hoch. Das zu sehen, bricht mir das Herz. Die Menschen fragten nach unseren Angeboten, vor allem für Kinder oder Sportveranstaltungen oder nach fröhlichen, lustigen Veranstaltungen.
Walter: Wir sprachen mit einer Mutter von vier Kindern, die als Krankenschwester im Schichtdienst arbeitet. Selbst sie verdient zu wenig Geld, um ihre Familie allein zu versorgen. Wir und viele andere Initiativen deutschlandweit gehören der ‚Bundesvereinigung Kulturelle Teilhabe‘ an. Wir sind oft im Austausch und alle anderen nehmen ebenfalls wahr, dass Menschen in Arbeit immer mehr auf Hilfe angewiesen sind.
Interview: Matthias Busse